Materialien „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ - Globales Lernen und Philosophie lernen

Buchhinweis


Stichworte: Zivilcourage, politisches System







Bibliographische Angaben:


Michael Wolffsohn: Zivilcourage. Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt. dtv -Taschenbuch. München 2016. ISBN 978-3-423-34885-0






Zum Buch:












Ich bewundere und verehre Menschen wie Dominik Brunner, Tuğçe Alabayrak oder Yavuz Yer. Sie sind Helden der Menschlichkeit. Ich wage und belege aber eine ketzerische These: Diese Helden der Menschlichkeit sind nicht nur Opfer von Unmenschen, sondern auch von wohlmeinenden Gutmenschen, die immer wieder von den Bürgern Zivilcourage fordern und sie – ungewollt, versteht sich – in Gefahr bringen oder quasi in den Selbstmord treiben.

Wachsamkeit, Hilfsbereitschaft, Hilferufe – ja und ja und ja. Zivilcourage als »Aufstand« durch wen auch immer –nein, weil lebensgefährlich. Nehmt nicht dem Kaiser ab, was des Kaisers ist, sondern verpflichtet den Staat zu dem, was des Staates ist: der Schutz seiner Bürger nach innen und außen.“ (S. 13)



Weil der Bürger nicht mehr an die Autorität des Staates glaubt, ihm nicht mehr vertraut, will er ihm so wenig Macht wie nur irgend möglich und nötig anvertrauen. Wer will dann noch für eine staatliche Sicherheitsinstitution wie Polizei oder Geheimdienst arbeiten? Die Wenigsten und nicht immer die Besten, zumal diese aus einer nur kleinen Zahl von Menschen rekrutiert werden, die überhaupt dazu bereit sind. Wie soll der Staat unter diesen Umständen Sicherheit garantieren? Zivilcourage ist etwas Vortreffliches. Sie reicht aber nicht, um diese Lücke zu füllen. Irgendwann greifen die Bürger zur Waffe, wenn der Staat keine oder nur unzureichende Sicherheit gewährt oder gewähren soll, wie das in den USA schon immer Tradition ist. Dort war der Staat nie Götze, sondern Dienstleister und dabei keineswegs allmächtig. Er sollte es auch nicht sein. So wollten es die Gründungsväter. Sie haben es zeitlos und klug begründet, besonders in den Federalist Papers“ (S.18 f).



Zwei Zitate aus dem ersten Kapitel des Buches, die den von Wolffsohn gewählten Untertitel „Streitschrift“ illustrieren.

Wolffsohn kratzt am gern vertretenen Bild von „Zivilcourage als Tugend“.Die Ausübung dieser Tugend kann ein tödliches Ende nehmen, kann gar Formen von Selbstjustiz gefährlich nahe kommen.

Der Staat kann seine Verantwortung für Sicherheit, Gewährung von Menschenrechten … nicht einfach auf Bürger abschieben. „Zentrale Aufgabe eines zivilisierten Staates ist es aber, seine Bürger zu schützen und in ihrem Auftrag das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Die Aufforderung des Staates zur Zivilcourage bedeutet also letztlich die Abschaffung des Staates. Sie ist ein Zeichen für die vollständige Verunsicherung der Entscheidungsträger in dieser Ära fundamentaler Revolutionen, so die provozierende These von Michael Wolffsohn“1.

Blick ins Buch: http://www.dtv.de/_pdf/blickinsbuch/34885.pdf



Am 01.06. 2016 sprach Michael Wolffsohn im NDR Kulturradio mit Jürgen Deppe über sein neues Buch ›Zivilcourage‹. Den Beitrag können Sie hier nachhören!

https://www.ndr.de/ndrkultur/Wie-der-Staat-seine-Buerger-im-Stich-laesst,audio284590.html






Einordnung für die Bildungsarbeit



Streitschriften“ bereichern den Unterricht, weil sie eine provozierende These formulieren und zur Auseinandersetzung herausfordern. In diesem Fall ist das besonders greifbar. „Zivilcourage“ allgemein geschätzt und als bürgerliche Tugend gepriesen wird zur Diskussion gestellt und beliebte Positionen erscheinen plötzlich problematisch. In den Fächerrn der politischen Bildung können so (ab Klasse 11) wichtige Akzente gesetzt werden.



Martin Geisz, Juni 2016



1http://www.dtv.de/buecher/zivilcourage_34885.html