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Buchhinweis


Stichworte: Ein Blick in die Kulturgeschichte; Musik in Synagogen in Deutschland vor 1938








Bibliographische Angaben:

»Orgel ad libitum«. Einblicke in die Musik der Reformsynagogen am Beispiel der ›Sammlung Oberkantor Nathan Saretzki‹
Hrsg. v. Europäisches Zentrum für Jüdische Musik (EZJM). 2015, 96 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-86525-428-3





Zum Buch:








 

In vielen von der Reformbewegung erfassten jüdischen Gemeinden gab es Orgeln – die erste 1810 in Seesen im Harz.1 Die Begleitung des Synagogengesangs durch eine Orgel war eine der vielen Neuerungen der jüdischen Reformbewegung. Louis Lewandowski in Berlin, Salomon Sulzer in Wien, Adolf Grünzweig in Arad und andere komponierten für den Synagogengottesdienst und wiesen der Orgel ihren Platz zu. Ihre Kompositionen wurden in vielen Synagogen (Deutschlands und Europas) genutzt.

In diesem Buch geht es um 16 Notenbände, die der Oberkantor Nathan Saretzki in der Reichspogromnacht 1938 aus der brennenden Hauptsynagoge in Frankfurt retten konnte. Die Autorin vermutet, dass es sich um Noten handelt, die im Alltagsgebrauch waren und von Nathan Saretzki in aller Eile zusammengesammelt worden sind.

Die Geschichte dieser Sammlung wird im Buch referiert – letztendlich gelangten die 16 Bände auf ungewöhnlichem Wege 1998 nach Hannover ins „Europäische Zentrum für Jüdische Musik“, wo sie inzwischen für die musikwissenschaftliche Forschung zugänglich sind.

Diese Bände sind zwar nicht der 'Kanon' jüdischer liturgischer Musik, vermitteln aber jeder auf seine Weise das Repertoire der liberalen jüdischen Gottesdiensttradition“.2

Wie diese liberale jüdische Gottesdienstradition in Frankfurt gelebt wurde, ist Gegenstand eines eigenen Buchkapitels. In der Hauptsynagoge in Frankfurt (einer reformierten Synagoge) wurde 1859 von E.F. Walcker in Ludwigsburg eine Orgel gebaut – mit 37 Registern war sie eine der größten Orgeln in Frankfurt. Der Chordirigent der Synagoge Heinrich Hecht und der Organist Carl Breidenstein hatten im Auftrag der Hauptsynagoge Chorstücke für den gesamten Festzyklus komponiert. 1937 formuliert ein Artikel über die Musik in Synagogen der Frankfurter Dirigent Manfred Kuttner, die Beteiligung der Gemeinde am Chorgesang sei als „allgemein erwünscht“[denn]“die eigentliche Aufgabe des Chores und der Orgel [sei], den Gemeindegesang zu unterstützen.“3

Die im Notenteil des Buches vorgestellten Bücher dieser Sammlung spiegeln diese Praxis. In der detaillierten Beschreibungen der Bände im Kapitel „Die Noten der 'Sammlung Oberkantor Nathan Saretzki'“ gibt es Verweise auf den Platz der Noten in der liturgischen Praxis und im Gemeindeleben.

Biographische Hinweise zu den Komponisten ermöglichen darüber hinaus einen Einblick in das musikalische Spektrum der Musik der Reformsynagoge. Im Vordergrund der hier vorgestellten Werke steht der Gesang : u.a. Louis Lewandowski (Achtzehn liturgische Psalmen), Salomon Sulzer (Schir Zion), Adolf Grünzweig (16 Casualien), Deutsch (Breslauer Synagogengesänge), Hirsch Weintraub (Synagogengesänge und schire beth Adonai). In einigen dieser Werke ist ein Orgelpart vorgesehen (in der Regel mit Bemerkungen wie „für Solo und Chor mit und ohne Orgelbegleitung“; „Orgel ad libitum“). Zur Sammlung gehören auch zwei „Orgelbücher aus Frankfurt“ - „Versöhnungstag Orgel“ „ist eine handschriftliche Zusammenstellung der Partituren von Synagogengesängen …. Es enthält handschriftliche Anmerkungen in verschiedenen Farben zu Registrierungen, Spielanweisungen und Abläufen, die offenbar vom Organisten vorgenommen wurden ….“4 Der zweite Band „Vorabend, Morgen und Hauptgebet des Versöhnungstages.Orgel“ ist eine Partitur für vierstimmigen Chor mit Orgelbegleitung u.a. mit Kompositionen von Lewandowski und Sulzer.

In der vorgestellten Ausgabe von Sulzers Schir Zion gibt es einige wenige Stücke für Orgel solo. Ansonsten sind in dieser Sammlung Werke für Orgel Solo, die es z.B. von Lewandowski, und Deutsch gibt, nicht Sammlung zu finden).

Zum weiteren Angebot des Buches gehören kurz ergänzende Exkurse (Jüdische Liturgie; Der Kantor in der Synagoge, Chorgesang in Synagogen, die Entwicklung jüdischer Riten) und ein Anhang mit Drei Kompositionen aus den (Frankfurter) Orgelbüchern.






Einschätzung

Das aufwändig und gekonnt gestaltete Buch thematisiert einen eher weniger beleuchteten Aspekt des Holocoust: Die Vernichtung gemeindlichen Gottesdienst - Lebens und die Zerstörung lange praktizierter Kultur im Gemeindeleben. Es gibt – gestützt auf die durch den Einsatz Einzelner bewahrten Reste einer großen Bücher- und Notensammlung - einen Einblick in das Leben von Reformsynagogen vor 1938. Die Sammlung spiegelt alltägliches Leben. Liturgische Praxis, Rolle von Gesang und Chorgesang, die Bedeutung der Orgel „ad libitum“. Ein Hinweis noch aus der Sicht dessen, der zum „Kulturerbe Harmonium“ arbeitet. In keinem der Bände ist vom Harmonium die Rede – obwohl in vielen Synagogen Harmonium-Instrumente in Gebrauch waren und auch für Harmonium Notenausgaben (etwa von Lewandowski und Sulzer) erschienen waren5. Dies bestätigt meiner Meinung nach die These der Autorin, dass hier im Gebrauch gewesene Bände gerettet worden sind – ein Harmonium wurde in der Hauptsynagoge in Frankfurt wohl nicht verwendet.




Martin Geisz, November 2015



1„Der Anfangspunkt der Einführung der Instrumente in den jüdischen Gottesdienst in Deutschland fällt in das Jahr 1810, als Israel Jacobson in der von ihm gegründeten Erziehungsanstalt und Handwerksschule für jüdische und christliche Kinder in Seesen am Harz eine Orgel aufstellen ließ. Die erste nachweislich in einer deutschen Gemeindesynagoge stehende Orgel wurde 1818 in Hamburg eingeführt, nachdem bereits 1815 in Berlin und 1816 in Kassel synagogale Lieder mit Orgelbegleitung gesungen worden waren. Die Entwicklung nahm einen deutlichen Aufschwung, nachdem die zweite deutsche Rabbinerversammlung 1845 einstimmig für die Zulässigkeit der Orgel in der Synagoge votiert hatte.“http://www.hagalil.com/archiv/2000/09/synagogenorgeln.htm

2S.7 (Einleitunng)

3S. 18

4S. 74

5Dazu: http://www.harmonium.gdo.de/aktuelles/aktuelles-detail/article/neue-arbeitskreis-veroeffentlichung-ueber-das-harmonium-in-der-synagoge.html (Aufruf 25.11.2015)