Materialien „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ - Globales Lernen


Buchhinweis


Stichworte


Wirtschaftssystem, Ökonomie, Liberalismus, Neoliberalismus, Europa









Bibliographische Angaben:



Ther, Philipp: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Suhrkamp Verlag. Berlin 2014. ISBN 978-3-518-42461-2




Zum Buch:










Nach 1989 gab es einen vollständigen Wandel. In kürzester Zeit wurden die Staaten, die vorher zusammen mit der Sowjetunion ökonomisch organisiert waren (z.B. im Comecon1) einem vollständigen Systemwechsel unterworfen. Neoliberale Ordnung, Privatisierung und Liberalisierung sind Stichworte.

Der Autor ist selbst „Zeitzeuge“ (erlebte in Tschechien(Prag), Polen, Ukraine den Wandel) und greift in diesem Buch immer wieder auf eigene Erfahrungen zurück und verbindet eigene Erfahrungen, Ergebnisse seiner wissenschaftlichen analytischen Arbeit2.

Der Verlauf des Systemwandels seit den achtziger Jahren hing in hohem Maße davon ab, wie sich die Gesellschaften, sozialen Gruppen und einzelne Menschen auf die massiven Herausforderungen einstellten. Dies führt zum Topos der »Selbst-Transformation«, die sich nicht nur in Anpassungsleistungen erschöpft, sondern auch offenen oder versteckten Widerstand beinhalten kann. Seit 2008/09 lebt Europa – wenige glückselige Länder ausgenommen – mit der Erfahrung einer andauernden Krise, jedenfalls eines permanenten Krisenbewusstseins. Vielleicht sind die Erfahrungen aus den frühen neunziger Jahren nützlich, wenn es darum geht, wie man derartige Umbrüche meistern kann. Die »Helden« des vorliegenden Buches sind daher die Menschen, die es trotz eines Monatseinkommens von umgerechnet 100 bis 200 Euro und ohne Vermögen geschafft haben, den Alltag in einer sich rapide verändernden Umgebung zu bewältigen, ihre Familie zu unterstützen, an ihrer Zukunft zu bauen und daraus Lebensfreude zu ziehen. Diese Aufbruchsstimmung und ein optimistischer Blick in die Zukunft scheinen dem heutigen Europa fast völlig abhandengekommen zu sein“3.

Insgesamt nimmt er eine gesamteuropäische Perspektive, die auch zeigt, dass der Umbau der Wirtschaftssysteme in den neuen Staaten unmittelbar auf die Ökonomien im Westen zurückwirkten. So interpretiert er die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung („Hartz IV“) z. B. als »nachholende Modernisierung«.



Das Inhaltsverzeichnis (s.u.) verdeutlicht die Arbeitsschritte.






Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Persönliche Vorbemerkungen

7 – Historisierung 17 – Ursprünge des Neoliberalismus 22 – Der Begriff der Transformation 26



2. Krisen und Reformdebatten der achtziger Jahre

Der Niedergang des Staatssozialismus 41 – Alternative Lesart des Kalten Krieges 45 – Die neoliberale Wende in West und Ost 47

3. Die Revolutionen von 1989 bis 1991



4. Praxis und Nebenwirkungen des Neoliberalismus

Periodisierung der Transformation 86 – Transformationskrisen 90 – Systemimmanente Probleme 104 – Typologie der Reformresultate 111

5. Die zweite Welle des Neoliberalismus



6. Ostmitteleuropäische Metropolen im Vergleich

7. Bilanz nach der Krise

Ende des wirtschaftlichen Aufholprozesses? 226 – Der Verlauf der Krise 233 – Das Beispiel der Fremdwährungskredite

238 – Politische Reaktionen auf die Krise 244

8. Der Süden als neuer Osten

Dauer und Tiefe der Krise 253

Migration als Ausweg 265

Das Mental Mapping Europas 267

9. Kotransformation

Die Sozial- und Arbeitsmarktreformen in Deutschland 279 – Der Diskurs um die Zivilgesellschaft 290 – Die Politiker, die aus dem Osten kamen 297

10. Genutzte und verpasste Chancen

Die Partizipation an der Revolution 306 – Die Werte der Revolution 315 – Geburtswehen des vereinigten Europa 324 – Der Konflikt um die Ukraine 332 Perspektiven nach dem Neoliberalismus 343


Zum Autor:

Philipp Ther, geboren 1967, ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Ther war zuvor unter anderem John F. Kennedy Fellow an der Harvard University und Professor am European University Institute in Florenz. Sein Buch Ethnische Säuberungen im modernen Europa wurde 2012 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

Rezensionen (Überblick): http://www.perlentaucher.de/buch/philipp-ther/die-neue-ordnung-auf-dem-alten-kontinent.html



Einordnung für die Bildungsarbeit



Für den Lernbereich „Globales Lernen“ bietet das Buch einen auch im Unterricht der Sekundarstufe II direkt einsetzbaren Zugang zu Grundfragen der aktuellen Ökonomie. Noch wichtiger scheint mir, das dieses Buch eine Perspektive einbringt, die andere Materialien zum Themenfeld nur selten einbringen.




Martin Geisz, Februar 2015


1Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (kurz RGW; russisch Совет экономической взаимопомощи (Sowet ekonomitscheskoi wsaimopomoschtschi), kurz СЭВ; englisch Council for Mutual Economic Assistance, kurz CMEA oder Comecon) war eine internationale Organisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion.

Der RGW wurde 1949 als sozialistisches Pendant zum Marshallplan und zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet. Er ist auch im Rahmen der Herausbildung des Kalten Krieges und der Zwei-Lager-Theorie zu sehen. Der RGW wurde – wie das 1955 gegründete Militärbündnis Warschauer Pakt – im Jahr 1991 infolge der politischen Umwälzungen des Jahres 1989 aufgelöst.“ (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Rat_f%C3%BCr_gegenseitige_Wirtschaftshilfe (13.202015)


2Das Stichwort der Erfahrung führt zur eigenen Positionsbestimmung, ein in den Sozial- und Geisteswissenschaften selten explizit gemachtes, aber eigentlich produktives Grundelement wissenschaftlichen Arbeitens. Zeitgeschichte bedeutet oft die Zeitzeugenschaft derer, die sie schreiben. Insofern kann der Zeitzeuge nicht der sprichwörtliche »Feind« des Historikers sein. Er hat sogar das Potenzial zum »Helferchen«, denn Erfahrungen im Kleinen ermöglichen einen anderen Blick auf größere Zusammenhänge und »conventional wisdoms«. Der zeitliche Abstand spielt dabei eine widersprüchliche Rolle. Einerseits lässt die Genauigkeit der Erinnerung nach, wenn Prozesse und Ereignisse länger zurückliegen (der Schwarzmarktkurs der tschechoslowakischen Krone im Jahr 1988 ist noch präsent, der Umrechnungskurs in die polnische »Speiseeis-Währung« aus dem Jahr 1977 dagegen vergessen), andererseits lassen sich manche Ereignisse und Prozesse mit wachsendem zeitlichen Abstand besser in einen weiteren Kontext einordnen und erklären. Bei zeitgenössischen Ereignissen ist der Historiker Chronist, wobei auch das ein Vorteil sein kann, zum Beispiel bei Oral-History-Interviews, die nur mit Mitlebenden geführt werden können. Die Chance liegt darin, das Wissen über länger und kürzer zurückliegende Veränderungen zu verbinden. Oft beruhen scheinbar neue Entwicklungen auf einem älteren, sich wiederholenden Muster.Ein Beispiel

Wirtschaftliche Einschnitte und Reformen werden seit der jüngsten und in Europa noch nicht bewältigten Krise von 2008/09 sehr häufig mit dem Argument präsentiert, sie seien »notwendig«, »alternativlos« oder sogar »unausweichlich«. Wer Anfang der neunziger Jahre in Polen oder Tschechien gelebt und gearbeitet hat, kennt diese Formeln und die daran anschließenden öffentlichen Debatten – die hier übergreifend als Transformationsdiskurse bezeichnet werden. Damals wurden die Reformen mit ihren umfassenden sozialen Einschnitten ebenfalls auf diese Weise vermittelt. Es handelt sich mithin um eine rhetorische Figur, um eine bestimmte Politik oder konkrete Maßnahmen zu legitimieren und durchzusetzen. Diesen und anderen neoliberalen Transformationsdiskursen wird in diesem Buch viel Aufmerksamkeit gewidmet, weil sich durch solche Dechiffrierungen oft mehr erfahren lässt als durch Zehntelprozente in Wachstumsstatistiken oder andere quantitative Daten, die stets mit einem Schuss Skepsis zu betrachten sind. “ S.16 f

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